Glücklich nahm ich das Paket in der Portiersloge der österreichischen Botschaft in Empfang und schleppte es in mein Studentenheim an der MGU (Moskovski Gosudarstvenni Universität imeni Lomonossowa), der Staatlichen Universität. Die österreichischen Stipendiaten hatten das Privileg, sich einmal im Monat ein Paket aus der Heimat schicken lassen zu dürfen, maximal 20 Kilogramm, streng überprüft von der Kurierleitung, der diplomatischen Poststelle des Außenministeriums.
Meine Kolleginnen Lisa und Susanne wünschten sich meist Lebensmittel und Hygieneartikel. Ich auch, aber diesmal hatte ich hauptsächlich Bücher bestellt. Meine Freundin Wjeta wünschte sich den in der Sowjetunion verbotenen Philosophen Nikolaj Hartmann, und mein Freund Paschka wollte Marx‘s Kapital I-III im Original lesen. Ich habe es beim Internationalen Buch im Wiener Trattnerhof erstanden, der Buchhandlung der KPÖ. Ich selbst kannte damals weder Nikolaj Hartmann, einen deutsch-russischen Neu-Kantianer, noch hatte ich Marx gelesen.
Ohne zu fragen erfüllte ich ihre Wünsche. Wjeta und Paschka konnten nicht Deutsch, und die Übersetzungsbemühungen gestalteten sich schwierig, waren aber eine gute Übung für mein mangelhaftes Russisch. Wjeta studierte ihren Hartmann nur heimlich, privat, mühsam, mit Wörterbuch. Aber Paschka machte aus seinem Marx eine große Geschichte.
Möglich, dass ich nicht allzu korrekt übersetzt habe. Man muss ja erst einmal den Inhalt verstehen, und davon war ich weit entfernt. Sie erklärten mir das Kapital, so verzerrt und stückweise, wie sie es vorgesetzt bekommen hatten und es angeblich die Sowjetunion umsetzte. Es war ein Dialog zwischen Stummen und Tauben. Paschka sammelte einige vertrauenswürdige Kollegen um sich, und wir hielten in seiner Wohnung Marx-Lese- und Diskussionszirkel ab. Das ging lange Zeit gut, weil seine Mutter als Telefonistin beim KGB arbeitete, also unverdächtig war.
Dabei war „Wohnung“ zu viel gesagt. Ljubow, eine kleine, magere und gekrümmte Frau, hatte ein großes Zimmer in einer Kommunalka mit einer Gemeinschaftsküche und einer Gemeinschaftstoilette. Es wohnten hier acht Familien auf einer ehemals herrschaftlichen Etage mit breiten Korridoren, in denen jetzt Gerümpel stand oder an den Wänden hing und die bis oben hinauf vollgestopft waren mit Vorräten.
Sie verglichen die Marx‘schen Aussagen des Originals mit den Zitaten in ihrem Lehrbuch in den Pflichtvorlesungen über den Dia-Mat. Und natürlich immer noch obligatorisch „Der kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU“, unverändert seit Stalins Zeiten, nur dass dieser nicht mehr vorkam.
Kein sowjetischer Student – und wahrscheinlich auch kein Dozent – bekam jemals ein Original von Marx und Engels in die Hand, sondern nur in die Vorträge eingestreute Schnipsel präsentiert, so wie sie gerade in die Sowjetideologie hineinpassten. Sie mussten den „Kurzen Lehrgang“ auswendig lernen, er wurde wortgenau abgeprüft. Papageien- und Sklavenunterricht.
Genau weiß ich nicht mehr, was Paschka so aufgebracht hat, was genau er an all den Lügen nicht mehr aushalten konnte. Das Auseinanderklaffen von Theorie und Wirklichkeit. Wahrscheinlich die Urlüge über den Marxismus, wie sie Lenin über das ganze Land gebracht hat: der Aufbau des Sozialismus in einem Land. Dass Russland als Agrarland ohne Kapital, Industrie und nennenswertes Proletariat denkbar ungeeignet war für eine proletarische Revolution, dass die Bolschewiki den Marxismus eigentlich erfunden hatten, um in seinem Namen an die Macht zu kommen.
Und die Folgerung, dass der „Rote Oktober“ keine proletarische Revolution war, sondern ein bolschewistischer Putsch einer kleinen Kaderpartei – entgegen ihres Namens in der Minderheit. Der ganze große Mythos vom Roten Oktober – ein einziger Schwindel! Ich verstand damals noch sehr wenig von diesem Furor, der sich aus der Marx-Lektüre entwickelte. Aber diese Studenten diskutierten sehr ernsthaft. Es ging ihnen um vieles, um alles. Das Land, die Welt, den Frieden, das Proletariat, die Intelligenzija. Das waren für mich keine Begriffe, hatte keine Inhalte und riefen keine vergleichbaren Emotionen hervor. Ich fand das nur übertrieben, hysterisch und lächerlich. Falsche Romantik und Wodka-Gedusel.
Als sich Paschka in der Argumentation der Widersprüche und Verdrehungen sicher genug war, trat er damit in einer Vorlesung auf. Ich war dabei, erinnere mich aber nicht mehr, um welche Frage es ging. Er schwenkte den 1. Band und zeigte auf die bunt angestrichenen Zeilen. Es entstand ein Tumult. Bevor er verhaftet wurde, wurde das Kapital verhaftet. Nicht der vortragende Professor, sondern Kollegen stürzten sich aus den Sitzreihen auf ihn, entrissen ihm den blauen Band mit den großen Goldlettern am dunkelblauen Einband. Paschka kam nicht mehr zu Wort und wurde abgeführt. Später bekam er einen Prozess vor dem Studenten-Parteigericht der MGU. Es wurden ihm Disziplinlosigkeit, Insubordination und Rufschädigung der Universität vorgeworfen.
Das klingt bedrohlich, aber der Prozess ging glimpflich für ihn aus. Er wurde nicht von der Universität relegiert, es war 1971, immerhin schon 18 Jahre nach Stalins Tod. Das Urteil – er bekam ein zusätzliches Semester militärische Übungen aufgebrummt, verschärftes Regiment, knapp vor dem Gulag.
Das Buch erhielt er nicht zurück. Vielleicht studierten es die KP-Funktionäre oder es wanderte statt ihm ins Lager. Bei der nächsten Party in Paschkas Wohnung phantasierten wir alle möglichen Strafen für das Kapital: Es wurde in Ketten gelegt, ausgepeitscht, verbrannt, eingestampft, umgeschrieben, mit Psychopharmaka vollgestopft, musste sich selbst widerrufen und abschwören, im Bergwerk arbeiten und wurde nach der Ableistung der Gulag-Strafe für ewig aus allen Städten verbannt.
Wjeta wurde keine Hartmann-Philosophin, schmiss ihr Studium hin und malte Bilder. Paschka schloss das Studium ab, arbeitete aber nie als Psychologe, sondern am Bau. Er wanderte später mit einer Linzerin nach Österreich aus und gründete eine Familie, lernte Deutsch und liest noch immer Karl Marx. Am schönsten dabei finde ich, dass er sich ausgerechnet in Freistadt niedergelassen hat.
1.11.17
Veronika Seyr
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